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Covid-19 und die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens: Die kopernikanische Wende?

Covid-19 und die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens

Die kopernikanische Wende?

Seit einem Jahrzehnt wird bekannter Weise an der Telematik Infrastruktur gearbeitet; seit Jahren sind telemedizinische Lösungen einsatzbereit; in den Monaten vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie stellte das Bundesministerium für Gesundheit die Weichen für den sicheren Austausch von Patientendaten und das Ausrollen von eHealth Lösungen. Kritikpunkte gab es oft, nicht zuletzt wurde der Schutz der persönlichsten aller Daten immer wieder für unzureichend erklärt.

Allerdings war bereits auch schon immer klar, dass das Schreckgespenst der nicht einzuhaltenden DSGVO und/oder der Cybersicherheitsmaßnahmen nur so lange seine Wirkung erzeugen würde, bis der Leidensdruck zu groß ist. Man vermutete, dass die schwindende Anzahl an sogenannten „Health Professionals“, also medizinisches und pflegerisches Personal, gegenüber dem wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung der Auslöser für eine breitere Akzeptanz telemedizinischer Leistungen sein würde. Tatsächlich waren aber Patient*innen mit seltenen Erkrankungen schon seit langem bereit ihre Daten zu teilen, falls es ihnen eine größere Chance auf Heilung ermöglichte. Auch chronisch erkrankte Patient*innen, insbesondere Diabetiker*innen, haben frühzeitig die Vorteile von eHealth Lösungen erkannt: durch engmaschig protokolliertes, digitales Monitoring des Blutzuckerspiegels können Veränderungen frühzeitig erkannt und möglichen Negativfolgen entgegengewirkt werden.

Und dann kam Corona. Um die aus dem Besuch von Arztpraxen hervorgehenden Risiken zu vermeiden, setzen derzeit immer mehr Ärzt*innen in der Gesundheitsregion KölnBonn auf durchaus hiesig hergestellte telemedizinische Leistungen (z.B. in Neuwied). Die Vorteile liegen auf der Hand: insbesondere Risikogruppen werden vor Infektionen geschützt, indem Arztpraxen, der öffentliche Nahverkehr und nicht notwendige Kontakte gemieden werden. Der direkte Zugang zu Arzt oder Ärztin per Video-Konferenz ist vielleicht ungewohnt, wird aber laut den Erfahrungen aller Beteiligten gut angenommen, sowohl von den Jüngeren wie von den Älteren. Das elektronische Einholen und Weiterleiten von Krankschreibungen und Rezepten ist in der Pandemie essentiell. Diese Option sollte auf Dauer Bestand haben, wie auch der telemedizinische Kontakt zu Arzthelfer*innen und Ärzt*innen, der einen wichtigen Kommunikationskanal darstellt. Natürlich sollte dieser bei dem Verdacht ernster Erkrankungen – nach Rücksprache – durch den persönlichen Besuch ersetzt werden.

Videokommunikation erlaubt nicht nur sprachlichen Informationsaustausch, sondern auch die Erhebung von Befunden, z.B. zu Atemverhalten, Bewegung oder etwa Verwirrtheit. In einer absehbaren Zukunft wird der „Missing Link“ zur Verfügung stehen, beispielweise in Form eines

desinfizierbaren kleinen Gerätes, welches über drahtlose Schnittstellen die Daten aus Messungen der Pulsoximetrie, der einfachen Lungenfunktion, eines Rhythmus-EKG etc. dem Arzt oder der Ärztin zur Verfügung stellen wird. Das Gerät sendet die erhobenen Daten kontaktlos zum Smartphone oder einem Computer, wo sie angezeigt und auf Wunsch gespeichert bzw. zur Arztpraxis oder der Notfallmedizin weiter geleitet werden können. So können Ärzt*innen das telemedizinische Untersuchungsspektrum deutlich ausweiten und das alltägliche Smartphone wird zum „Information Hub“. Diese Technologien sind prinzipiell heute schon verfügbar. Zukünftig wird Einmalsensorik Patient*innen nicht nur im Krankenhaus rund um die Uhr überwachen, sie kann die Patient*innen auch nach Entlassung in die Häuslichkeit begleiten. Sie dient somit der Routine, steht aber – intelligent konzipiert – auch bei Pandemien und Katastrophen zur Verfügung. Der diagnostische Einmalchip, der Blut untersucht, ist dann ein weiterer Schritt, der der ambulanten Pflegekraft oder anderen zur Verfügung steht. So könnten auch Großschadensereignisse außerhalb der klassischen medizinischen Strukturen dank digitaler Technologien betreut und auch erforscht werden. In dieser Hinsicht benötigt Deutschland eine bessere Vorbereitung auch für anderweitige Systemschocks.

Wir sehen in der vermehrten, weltweiten Nutzung telemedizinischer Angebote in der derzeitigen Pandemie mehr als eine – durchaus erfolgreiche – Strategie zur weiterführenden Kontaktvermeidung und Erreichung eines geringeren Durchseuchungsgrads in Risikogruppen. Wir glauben, dass das jetzige Verlangen nach einem breiteren Einsatz von Technologien im Gesundheitswesen langfristig das Augenmerk auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Patient*innen richten wird und so soziale Einsamkeit lindern, Kommunikation fördern oder Präventionsmaßnahmen in die Häuslichkeit bringen kann. Der Status Quo – u.a. durch ein unverändertes Vergütungssystem – darf nicht weitergeführt werden: Die virtuelle Leistungserbringung muss einen angebrachten Platz in der Regelversorgung einnehmen dürfen.

Die Krise hat insbesondere die defizitäre Digitalisierung in vielen Bereichen des Gesundheitswesens deutlich gemacht. Gerade die Strukturen der Gesundheitsämter sind im frühen Verlauf der Pandemie an ihre Grenzen gekommen. Um der hohen Arbeitsbelastung in Zeiten von Corona gerecht zu werden, sind reaktive und ressourcenschonende Strukturen notwendig. So wurden in den vergangenen Wochen in den Gesundheitsämtern Prozesse digitalisiert: Beispielsweise sind Chatbots im Einsatz, die automatisiert Fragen auf Basis einer Wissensdatenbank beantworten. Verwaltungsabläufe, wie die Übermittlung von Testergebnissen und das Informieren der getesteten Personen, werden digitalisiert. Es werden Apps implementiert, die die Infektionsketten nachvollziehen und schnelle Informationen über neue Infektionsherde generieren können.

In vielerlei Hinsicht bedeutet dieser Digitalisierungsaufschwung eine Chance. Personalressourcen können durch effizientere, digitalisierte Prozesse eingespart und an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Die Digitalisierung könnte zusätzlich die Attraktivität vieler Berufe im Gesundheitswesen steigern und so dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Digitalisierung bedeutet nämlich, alle Prozesse und Abläufe neu zu denken und auch Disruptionen zuzulassen. Ergibt es bspw. heute noch Sinn, die ambulante von der stationären Versorgung zu trennen? Müssen wir nicht soziale und medizinische Betreuung stärker integrieren? Auch wird die Debatte rund um die Krankenhauslandschaft mit neuen Augen betrachtet, insbesondere hinsichtlich des Erhalts der kleineren Krankenhäuser. Insbesondere die Rolle – mehr als die Anzahl – der Versorgungszentren sollte überdacht werden. Die Herausforderungen der Gesundheitsversorgung jenseits der Corona-Bewältigung implizieren neue Verantwortungen für regionale Maximalversorger – allerdings nicht ohne lokale Partnerschaften, die es gilt, zeitnah anzustoßen. Die gesundheitlich-soziale Versorgung der Zukunft basiert auf einer integrierten Regionalversorgung, so wie es einige Rettungsleitstellen seit mehreren Jahren praktizieren.

Die aktuelle Situation stellt vieles in Frage und rückt in den Vordergrund, wie greifbar nah Lösungen sind, die für alle Beteiligten eine Erleichterung sein könnten. Jenseits der o.a. Geräte-Innovationen können auch z.B. interaktive Kommunikationsangebote der Vereinsamung einiger Bevölkerungsgruppen, z.B. in Pflege- oder Altenheimen, entgegenwirken. Sie bringen „Nähe“, völlig unabhängig vom Mobilitätsgrad der einzelnen Personen, und eHealth Angebote sind teils kostengünstiger als herkömmliche Leistungen aus der Versorgung und der Pflege. Sie ermöglichen eine neue Form der Gemeinschaft. Aber hauptsächlich erlauben sie eine bessere Personalisierung sowie Patientenzentriertheit und könnten somit die lang benötigte Wende in vielen Gesundheitssystemen ermöglichen.

Die sogenannte Corona-Krise wird also hoffentlich einiges Positives hinterlassen: verbesserte Handhygiene, größere Wertschätzung des Gesundheitspersonals (und aller anderer gesellschafts- und systemrelevanten Akteuren*innen), ein grundlegendes Überdenken der Finanzierungssysteme der Gesundheitssysteme weltweit, eine Verbesserung der Meldesysteme – auch global und politisch – und ein besseres Verständnis der vielen Chancen und Möglichkeiten, die uns die Telemedizin bietet.

Prof. Dr. Wolfgang Goetzke, Prof. Dr. Michael Wendt, Nathalie Wiegel & Dr. Alexia Zurkuhlen

Erstellt am 22.04.2020