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Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen: Stärkt die Regionen bei der Gestaltung unserer Zukunft!

Ergebnisse einer mehrteiligen Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademie Loccum und des Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen e.V. (NDGR)

Sichtweisen aus dem NDGR, verfasst von

Uwe Borchers, Josef Hilbert und Helmut Hildebrandt

Im März 2021

  1. Mehr Gemeinwohl wagen: Bessere Rahmenbedingungen und Spielräume für innovative Gesundheitsmodelle in der Stadt und auf dem Land!

    Die Dynamik einer modernen Medizin, die Entwicklung der Medizin- und Gesundheitsberufe und die digitalen Gesundheitstechnologien bilden die Grundlage für eine zukunftsorientierte Gestaltung der Gesundheitsversorgung in der „großen“ Politik“ wie auch „vor Ort“ in den Städten und Gemeinden sowie auf regionaler Ebene. Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft sind gefordert, über den Horizont gegenwärtiger Systemkorrekturen der Über-, Unter- und Fehlversorgung hinaus eine verstärkt auf Gemeinwohl ausgerichtete Gestaltung der gesundheitsbezogenen Daseinsvorsorge zu entwickeln. Eine bedarfsgerechte, Sektoren übergreifend integrierte, gerechte und nachhaltige Gesundheitsversorgung wird noch immer gern gefordert, jedoch noch zu selten systematisch umgesetzt.

  2. Mehr innovative Regelversorgung wagen: Verstärkung der interprofessionellen Versorgungsansätze und bedarfsgerecht gestufter Versorgungsangebote!

    Seit Jahren dienen Pilotversuche und Modellprojekte dazu, neue Optionen einer verbesserten Versorgung und bedarfsgerechter Innovation zu erproben. Insbesondere an der Schnittstelle ambulanter und stationärer Versorgung ist es bislang aber nicht ausreichend gelungen, innovative Ansätze in eine nachhaltige Regelversorgung zu überführen. Der Innovationstransfer im Gesundheitswesen muss deutlich forciert, enger mit den Chancen der Digitalisierung verbunden und deutlicher an die lokal differenzierten Bedarfslagen angepasst werden. Das erfordert zumindest in Teilen des Systems einen fundamentalen Umbau. Die Entwicklungslinien dafür sind heute klar zu erkennen:
  • Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung organisieren die Nah-, Basis- und Notfallversorgung; lokalen Bedarfen entsprechend werden Schwerpunktzentren gebildet; Universitätskliniken und Häuser der Maximalversorgung werden zu Leistungszentren mit abgestimmten Exzellenzprofilen; Zur Bereinigung redundanter Strukturen insbesondere der Überversorgung sind neue Steuerungsinstrumente zur Abstimmung der Behandlungsschwerpunkte erforderlich.
  • Kleinere lokale Krankenhäuser können sich in Verbindung mit neuen intersektoralen Vergütungsformen und der zunehmenden Miniaturisierung von Diagnostik zu lokalen Gesundheits- und Versorgungszentren in Kombination mit stationären Kurzzeitangeboten und Rehabilitationszentren entwickeln.
  • In der gestuften Versorgung arbeiten Krankenhäuser der Nah-, Basis- und Notfallversorgung, aber auch Portalkliniken und MVZ strukturiert mit Zentren der Spitzenmedizin z.B. an Universitätskliniken zusammen. Nach Stand der Technik bietet die Telemedizin hierfür heutzutage die hinreichenden Optionen. Die Versorgung in der Fläche der ländlichen Regionen aber auch strukturschwacher Metropolregionen findet so Anschluss an eine an Exzellenz ausgerichteten Hochleistungsmedizin. Insbesondere gilt dies für die Versorgung bei chronischen Krankheiten wie Herzinsuffizienz, Diabetes, neurologischen Erkrankungen, COPD etc.
  • Grundsätzlich ist das Interesse an digital gestützten Formen der Zusammenarbeit deutlich gestiegen. Das gilt sowohl für die Zusammenarbeit der Professionellen im Gesundheitswesen untereinander als auch für die Zusammenarbeit der Professionellen und der Laienarbeit sowie der Patient*innen. Wichtige Stichworte sind hier die elektronische Patientenakte – ePA –, Videosprechstunden oder auch Teletherapien, etwa in der Logopädie, deren Nutzung nicht zuletzt durch die Corona/COVID-19-Pandemie befördert wurde. Eine Veränderung auch der rechtlichen Rahmenbedingungen ist hier zu beobachten und die Digitalisierung öffnet neue Wege für mehr Qualität von Gesundheitsangeboten über räumliche Distanzen hinweg.
  • Das Interesse niedergelassener Mediziner*innen an gemeinschaftlicher Berufsausübung hat bereits bis heute stark zugenommen und wird wohl auch in Zukunft weiter steigen. Neue Wege der Trägerschaft werden sich bei den Einrichtungen durchsetzen. In jüngster Zeit ist zudem zu beobachten, dass sich Großinvestoren verstärkt in diesem Markt engagieren. Auch in Reaktion darauf wird unter Perspektiven einer sozialverträglichen und arbeitsverträglichen Gesundheitspolitik vermehrt diskutiert, wie gesellschaftspolitisch gut vertretbare Alternative umgesetzt werden können und inwieweit kommunale Trägerschaften verstärkt unterstützt werden sollen.
  • Die nicht-medizinischen Gesundheitsdienstleistungen scheinen verstärkt nachgefragt zu werden. Die berufsrechtlichen Handlungsspielräume wachsen. Das gilt in erster Linie für die Pflege, aber auch für Heilberufe (z.B. Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie). Trotz oft bescheidener rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen drängen die Verbände dieser Berufsgruppen auf ein Mitwirken in integrierten Versorgungslösungen und suchen die patientenorientierte Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Vertragsärzten.
  • Aus oft langjährigen Pilotprojekten entstehen in einigen Regionen neue Managementeinheiten, die das Zusammenspiel von Gesundheitsakteur*innen „vor Ort“ verbessern wollen. Wichtige Ziele sind der Auf- und Ausbau patientenorientierter Versorgungsstrukturen, die Stärkung der Prävention sowie mehr Wirtschaftlichkeit beim Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Die Evaluation der ersten über einen längeren Zeitraum gelaufenen Aktivitäten dieser Art zeigt, dass solche Ziele erreichbar sind. Auch hohe Anfangsinvestitionen oder Kosten für den Aufbau und das Betreiben der notwendigen Managementstrukturen scheinen refinanzierbar. Ein Effekt solcher Modelle scheint zu sein, dass die Zufriedenheit der Versicherten und Patient*innen steigt. Entstehungsort solcher wegweisenden Erneuerungen sind oft mittelstädtisch und ländlich geprägte Regionen.
  • Unter dem Dach des Innovationsfonds Gesundheit oder auch finanziert aus einer Vielzahl weiterer einschlägiger Bundes- und Länderprogramme arbeiten (oder arbeiteten) in den deutschen Gesundheitsregionen zahlreiche Projekte mit indikationsspezifischem Schwerpunkt, um die Versorgung von Patient*innen signifikant zu verbessern. Diese Projekte konnten vielerorts überzeugende Erfolge erzielen. Die Herausforderungen liegen jedoch nach wie vor darin, solche Erfolge auf Dauer und in der Breite verfügbar zu machen.
  • In vielen ländlichen Regionen gibt es große Sorgen um die Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung, oft einhergehend mit der Vermutung einer abnehmenden Bereitschaft insbesondere junger Ärzt*innen zur Niederlassung in einer eigenen Praxis. Kommunen haben das Problem erkannt und machen sich auf den Weg, als Standort auf sich aufmerksam zu machen und sektorenübergreifende Initiativen zu unterstützen und innovative Versorgungsmodelle zu fördern. Unter Studierenden der Medizin scheint dies den Nerv zu treffen, insbesondere wenn es um den Aufbau eines Lebensmittelpunktes mit Familie in einem attraktiven Umfeld geht.

3. Nachdem der Gesetzgeber vor über zwanzig Jahren die Integrierte Versorgung eingeführt hat, benötigen wir heute einen neuen Aufschlag!

Für eine echte Sektoren übergreifende Versorgung und wirkliche Kooperation unter den beteiligten Berufsgruppen fehlt noch immer die gegenseitige Anerkennung. Die Professionen arbeiten in ihren fachlichen Silos, und es mangelt an zielführenden Anreizen für die Beteiligten an der Integration. Das ist eine komplexe Aufgabe, und Integration und Koordination im Gesundheitswesen erfordern ein hohes Investment aller Beteiligten. Für Krankenkassen wie für Leistungserbringer sind die Hindernisse hoch, die Interessenlagen sorgen für Widerstände und eine belastbare Erfolgsmessung ist kaum zu realisieren. Aber der Horizont für eine nachhaltige Verbesserung des Systems öffnet sich. Und die Loccumer Beratungen zur Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen zeigen, dass der Grund für die vorliegenden positiven Innovationserfahrungen dort zu finden ist, wo unter anderem aus aktiven Initiativen der kommunalen und regionalen Ebene Bewegung entsteht. Diese gilt es zu stärken:

  • Auf der regionalen Ebene soll es eine kommunale Zukunftsplattform geben, auf der Versorgungsbedarfe und Verbesserungen des Versorgungsangebots verhandelt werden können. Hierfür sind ein Budget, die Verfügungsmöglichkeit über die lokalen Versorgungsdaten und eine Koordinierungsstelle notwendig. Zu diskutieren ist, inwieweit auch Rechte delegiert werden, die Krankenkassen zu integrierten Vertragsabschlüssen auffordern zu können. Kostenträger sollten diese dann entweder annehmen und ggf. weiter optimieren oder zurückweisen können – dann aber mit einer öffentlich zugänglichen Begründung.
  • Die Umsetzung der Maßnahmenvorschläge auf dieser Plattform kann durch eine regionale Einheit für das Versorgungsmanagement erfolgen. Neben der Organisation des verbesserten Zusammenspiels sollte dieser auch die mobilisierende Öffentlichkeitsarbeit obliegen. Und sie sollte sicherstellen können, dass ein wissenschaftlich fundiertes und öffentlich zugängliches Wirkungsmonitoring zur verbesserten Versorgungsstruktur erfolgt.
  • Zur Anschubfinanzierung solcher regionalen Management-Einheiten sollte von der Bundespolitik eine Art „Future4Health-Fund“ installiert werden. Dieser kann als revolvierender Finanztopf angelegt sein. Angesichts der Finanzierungsproblematik nach der Pandemie sollten auch Stiftungen, Versorgungswerke und private Finanziers dazu eingeladen werden, sich zu beteiligen. Bisherige Erfahrungen mit einschlägigen Modellprojekten sprechen dafür, dass nach etwa 5-10 Jahren die anfänglichen Investitionen und Kosten eingespielt werden können, eine Integrationsdividende aufgrund der auf Prävention und Effizienzsteigerung abstellenden Versorgungsansätze also möglich ist.
  • Das Bundesamt für Soziale Sicherung sollte seine bisherigen Aufsichts- und Kontrollaufgaben gegenüber den Krankenversicherungen um eine Aktivierungs- und Unterstützungsaktivität „Integration und Prävention“ erweitern können. Eine zentrale Dimension dessen sollte die Entwicklung standardisierter regionaler IV- Verträge sein, auf die sowohl die regionalen Plattformen als auch die Krankenkassen bei Bedarf zurückgreifen können. Eine zweite Dimension sollten öffentlich zugängliche (deutschlandweit flächendeckende) Berichte darüber sein, wie Verbesserungsanstrengungen tatsächlich wirken und welche Kostenträger sich dabei mit welchen Auswirkungen auf die Gesundheit ihrer Mitgliedschaft engagieren.
  • Einige der Regionen, die im Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen organisiert sind, können die Entstehung regionaler Integrationseinheiten fördern. Über diese Unterstützung können unter breiter Beteiligung weiterer interessierter Akteure der Region neue Impulse für integrierte Versorgung auf regionaler Ebene entstehen. Zudem kann erwartet werden, dass Kommunen selbst auch verstärkt in die Diskussion geraten, hier mögliche, erweiterte freiwillige Aufgaben oder sogar Trägerfunktionen zu übernehmen.
  • Die Loccumer-Beratungen regen an, die Bereitschaft der kommunalen Ebene, sich für Themen der lokalen Gesundheitsversorgung zu engagieren, zu stärken. Am Rande tauchte auch die Frage auf, inwieweit eine Festschreibung von Aufgaben der Gesundheitsversorgung als eine kommunale Pflichtaufgabe denkbar sein könnte.
  • Die regionale Gestaltung der Gesundheitsversorgung sollte auch mit Blick auf eine Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes thematisiert werden. Im Verlauf der Corona/COVID-19-Krise ist sehr deutlich geworden, dass das deutsche Gesundheitssystem hier eine deutlichen Verbesserungsbedarf hat. Die Gesundheitsversorgung würde von einem leistungsfähigeren öffentlichen Gesundheitsdienst nachhaltig profitieren.

4. Der Gesetzgeber ist gefordert, bessere Versorgung auf lokaler Ebene zu ermöglichen. 

Die Parteien bereiten sich auf den kommenden Bundestagswahlkampf vor. In den Programmdiskussionen steht nicht nur aufgrund der Corona/COVID-19-Krise das Thema Gesundheit auf der Tagesordnung weiter oben als üblich. Die kommende

Legislaturperiode des Deutschen Bundestags eröffnet die große Chance, die politischen Rahmenbedingungen und die gesetzgeberischen Initiativen für eine stärker dezentrale, bedarfsgerechtere und kommunal mitgestaltete Gesundheitsversorgung umzusetzen. Die neuen Perspektiven, die dadurch entstehen können, würden durch die deutschen Gesundheitsregionen als Gestaltungspartner unterstützt und gefördert. Denn die Mitgliedsregionen des NDGR haben bereits vielfach für besser integrierte Versorgung plädiert und konnten zahlreiche, ganz praktische und nachhaltig gangbare Wege erproben.

In vier Veranstaltungen, die die Evangelische Akademie Loccum mit dem NDGR gemeinsam durchgeführt hat, wurden Perspektiven einer neuen Gesundheitsversorgung in ländlichen Räumen debattiert. Drei virtuelle Veranstaltungen lieferten einen Überblick über die laufenden Initiativen auf regionaler Ebene und stellten Zukunftsperspektiven zur Diskussion. Ein Goldstandard ergab sich nicht, aber die Erwartungen gingen auch eher in die Richtung eines wechselseitigen Ideenaustausches. Das ist gelungen. Eine Basis für weiterführende Überlegungen zur Systemgestaltung des Gesundheitswesens liegt vor, vgl. auch die intensive Diskussion in der „Welt der Krankenversicherung“1

1 Die Artikel sind offen downloadbar unter https://optimedis.de/iv-als-regelversorgung