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KI im Gesundheitswesen: Chancen, Herausforderungen und Anwendungsbeispiele

Ein Interview mit Dario Antweiler (Teamleiter des Geschäftsfelds Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS)

Im August stand dem Team der Geschäftsstelle freundlicherweise Dario Antweiler vom Fraunhofer IAIS für ein Interview zum Thema KI im Gesundheitswesen zur Verfügung. Er konnte spannende Einblicke in den Einsatz von KI in Bereichen der Diagnostik und Therapie geben und sprach auch über aktuelle Forschung und zu erwartende Entwicklungen und Veränderungen durch den Einsatz von KI im Gesundheitswesen.

Dario Antweiler (Foto: Anke Liepertz-Peter / Fraunhofer IAIS)

Dario Antweiler ist Teamleiter des Geschäftsfelds Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS und betreut Projekte in den Themenbereichen Digitalisierung im Krankenhaus sowie KI in der Pharmakologie. Seine Forschungsfelder sind Machine Learning und Visual Analytics im Gesundheitswesen.

HRCB: Zum Einstieg: Wie würden Sie den Unterschied zwischen digitaler Anwendung und KI-unterstützter Anwendung erklären?

Antweiler: Eine klare Definition oder Abgrenzung zu formulieren, ist nicht ganz einfach. Ich würde aber bei KI immer von einem lernenden System ausgehen: Es tut etwas, das typischerweise ein Mensch macht, also lesen, sehen, schreiben, verstehen, entscheiden. Wenn es allerdings regelbasiert ist, dann ist es keine KI, sondern reine Digitalisierung, bspw. das Erstellen einer Checkliste für eine Operation auf Basis der Diagnose. KI lernt immer aus einer Datengrundlage aus der Vergangenheit, zieht Muster daraus und wendet diese in der Zukunft an. Der Übergang zwischen reiner Digitalisierung und KI ist allerdings manchmal fließend.

HRCB: Künstliche Intelligenz wird im Gesundheitswesen bereits in verschiedensten Bereichen eingesetzt. Können Sie uns Beispiele nennen, wo KI in der Früherkennung von Krankheiten bereits sehr fortgeschritten ist und welche Daten dabei verwendet werden?

Antweiler: Ein Klassiker ist die Sepsis-Früherkennung im Krankenhaus, die sehr komplex ist. Erkennt man eine Sepsis allerdings früh genug, gibt es einige Maßnahmen, die ergriffen werden können. Hier gibt es Sepsis-Früherkennungssysteme, die auf KI aufbauen und die auch teilweise schon zugelassene Medizinprodukte in Europa sind. Die Daten, auf denen sie beruhen, sind typischerweise eine Mischung aus strukturierten Daten und Signal- oder Sensordaten. Insbesondere relevant sind also die Laborwerte der im Krankenhaus aufgenommenen Patient:innen, außerdem deren Vorerkrankungen, Medikation, Begleiterkrankungen und bspw. ein aufgezeichnetes EKG. Die Kombination dieser Daten kann dann genutzt werden, um im Vergleich zur historischen Patientenkohorte einzuschätzen, ob eine Sepsis sehr wahrscheinlich vorliegen wird oder nicht.
Geforscht wird außerdem an Themen wie Nierenversagen, was auch ein häufiges Problem im Krankenhaus ist, aber ebenfalls frühzeitig erkannt werden kann, wenn die relevanten Daten vorliegen. Hierfür wird auch KI eingesetzt.
Zudem gibt es für liegende Patient:innen zur Dekubitus-Prophylaxe den Einsatz von KI in Verbindung mit einer Sensormatte im Bett, wodurch erfasst werden kann, ob die Personen sich an gewissen Stellen genügend bewegt haben oder nicht.
Als Beispiel für Anwendungen außerhalb des Krankenhauses gibt es in der Parkinson-Früherkennung Apps, die auf Sprache basieren und erkennen können, ob bereits Einschränkungen in der Sprache vorliegen bzw. die den Erkrankungsverlauf erfassen und eine Verschlechterung erkennen können.

HRCB: Wie sieht es aus im Bereich der Therapie? Gibt es da auch schon KI-Anwendungen?

Antweiler: Ja, gibt es auch, bspw. im Bereich Schwerverletzten-Versorgung. Wenn es um die Frage geht, ob eine Not-OP durchgeführt werden soll, müssen Komplikationen analysiert werden. Hier kann die KI auf Basis der Patientendaten prognostizieren, ob gewisse Komplikationen eintreten werden oder nicht. Das beeinflusst also maßgeblich die Therapie. Weiter wird als Teil von Therapien auch in der Robotik KI bzw. klassische Software-Logik eingesetzt und es werden bspw. auch Prognosen von Bluttransfusionen – wird eine Blutkonserve benötigt und wenn ja, in welcher Menge – mit KI gemacht.

HRCB: Sind Ihrer Erfahrung nach Kliniken offen und motiviert, KI-Anwendungen einzuführen?

Antweiler: Das lässt sich nicht pauschal beantworten, denn es gibt sehr unterschiedliche Hürden und Probleme aus organisatorischer, personeller, finanzieller und regulatorischer Sicht. Die Bereitschaft, sich neue Technologien anzuschauen, ist hoch, ebenso der Wunsch, die Behandlungsqualität und die Effizienz zu steigern. Aber es gibt enorm viele Hürden und eine KI kann – auch bei Befürwortung durch alle Beteiligten – nicht einfach kurzerhand in einem Krankenhaus installiert werden.

HRCB: Stellen sich Kliniken zunehmend auch aus personeller Sicht besser auf für den Bereich Innovation?

Antweiler: Das müssen sie sogar. Wir haben ein Paper zu dem Thema geschrieben (Anm.: Antweiler, D., Albiez, D., Bures, D. et al. Einsatz von KI-basierten Anwendungen durch Krankenhauspersonal: Aufgabenprofile und Qualifizierungsbedarfe. Bundesgesundheitsbl 67, 66–75 (2024). https://doi.org/10.1007/s00103-023-03817-x), in dem wir etwa 30 Aufgabenprofile entwickelt haben, die in Zukunft relevant sein werden für KI in der Medizin im Krankenhaus. Unser Fazit: Die wenigsten Krankenhäuser können diese Rollen momentan füllen und vermutlich auch nicht in naher Zukunft – was daran liegt, dass der Bereich IT in deutschen Krankenhäusern oft bereits mit der Digitalisierung an sich zeitlich überfordert ist. Zusätzliche Themen wie KI können dort kaum angegangen werden. Eine weitere Herausforderung ist, dass es in einem typischen Krankenhaus kaum Personal gibt, welches sich um das Thema Innovation und KI kümmern kann. Es braucht Personen in der Schnittstelle zwischen Medizin, Pflege, Verwaltung und IT, die in interdisziplinären Projekten KI-basierte Medizinprodukte einführen und Projekte entwickeln. Das können sich aktuell eigentlich nur Unikliniken leisten.

HRCB: Wie sieht es mit dem Einsatz von KI in Kliniken zur Verbesserung von Arbeitsprozessen aus und wohin geht da der Trend?

Antweiler: Das wird genau so kommen wie mit Software, die letztendlich jeden Bereich eines Krankenhauses oder auch des Gesundheitswesens durchdrungen hat. Personal-, Geräte-, Betten- und OP-Planung sind Vorgänge, die bereits jetzt KI-basiert von Software im Krankenhaus gemacht werden, um die Effizienzen zu steigern. Auch Logistikprozesse werden unterstützt, z.B. bei der Nachbestellung von medizinischen Verbrauchsmaterialien oder bei den sehr komplexen Abläufen einer Krankenhausapotheke. Als weiteres Beispiel ist die Blutprodukteherstellung zu nennen, bei der KI eingesetzt wird, um die Prozesse zu optimieren.
Darüber hinaus kann KI auch im Bereich Terminvereinbarung und Ressourcenplanung eine Effizienzsteigerung erwirken: Unter Berücksichtigung von sowohl den elektiv planbaren Terminen als auch von bspw. nicht planbaren Operationen können hier vorausschauend Ressourcen entlang der Behandlungskette von Anfang an eingeplant werden.

HRCB: Wie ist in der Forschung die Herangehensweise: Schaut man sich vorhandene Daten an und generiert dafür eine KI oder gibt man vor, was die KI können soll und sucht oder erhebt entsprechend die dafür benötigten Daten?

Antweiler: Beides findet Anwendung. Wenn z.B. ein Pharmaunternehmen untersuchen möchte, ob es innerhalb einer Erkrankung verschiedene Subgruppen gibt, dann muss hypothesenfrei nach Mustern in den vorhandenen Daten gesucht werden, bspw. Biomarker, die einen Hinweis auf einen Erkrankungs-Subtyp geben. Auf der anderen Seite kann man mit einem klar definierten Ziel starten. Für die Prognose von Komplikationen im OP dagegen braucht man historische Daten, um herauszufinden, ob es einen Zusammenhang aus eingehenden Daten und Komplikationen gibt. Und manchmal kombiniert man auch beide Vorgehensweisen.

HRCB: Daran anknüpfend: Wird es zukünftig notwendig sein, bspw. im Krankenhaus Daten anders zu erheben, weil eine KI eingesetzt wird, die bestimmte Daten benötigt?

Antweiler: Die Vision ist, dass niemand mehr aktiv dokumentieren muss, sondern dass alles passiv automatisch aufgezeichnet und so abgelegt wird, dass es den Applikationen, v.a. KI, zur Verfügung steht. Wir werden zukünftig Anwendungen haben, die Daten brauchen, die heute noch gar nicht aufgezeichnet werden. Das sind z.B. Daten, die bei einer Schwerverletzten-Versorgung entstehen: Was geschieht, bevor der Patient ins Krankenhaus kommt, kann alles relevant sein für die spätere Behandlung. Doch viele der Daten, die am Unfallort oder im Rettungswagen aufgezeichnet werden, schaffen es nicht ins Krankenhaus. Es wird also nötig sein, diese Speicherung und Weiterleitung von Daten entlang des gesamten Patientenbehandlungspfades zu verbessern. Was aber natürlich nicht passieren darf, ist, dass mehr aktiv dokumentiert werden muss – denn das ist heutzutage schon zu viel.

HRCB: Was sind derzeit Highlights der Projekte im Bereich KI und Gesundheitswesen, die Sie betreuen?

Antweiler: Wir haben u.a. gerade eine KI-basierte Entlass- bzw. Arztbriefschreibung gebaut. Das ist sehr spannend, da in Deutschland pro Jahr 150 Mio. Arztbriefe geschrieben werden, was die Leute im Krankenhaus die Hälfte ihres Arbeitstages beschäftigt. In einem weiteren Projekt wird eine Schlafanalyse-KI entwickelt, die in Verbindung mit den bereits erwähnten Matten frühzeitig Erkrankungen bei Patient:innen, die im Krankenhaus liegen, erkennen soll. Und wir haben ein Projekt im Bereich Arzneimitteltherapiesicherheit, bei dem es darum geht, ob sich unerwünschte Nebenwirkungen bei Medikationen erkennen und ableiten lassen. Eines meiner Highlight-Projekte war außerdem das Thema Epidemiologie während der Corona-Pandemie, also das Vorhersagen von Infektionsketten. In dem Bereich fördert die Bundesregierung weitere Forschung, um im Falle einer neuen Pandemie vorbereitet zu sein.

HRCB: Sind für Sie auch philosophische Fragen ein Thema, bspw. die Möglichkeit, dass Ärzt:innen immer schlechter Arztbriefe schreiben können, weil das von einer KI übernommen wird?

Antweiler: Das wurde von Ärzt:innen schon manchmal geäußert, allerdings haben wir derzeit eher Vorstufen solcher Probleme. Deutlich akuter ist das Problem, das man Automation Bias nennt: Dass ein System, welches gut funktioniert, nicht mehr hinterfragt wird. Wenn Menschen nicht mehr genau überprüfen, was diese Systeme machen, dann können sie so auch Fehler nicht gut erkennen. Letztendlich werden viele Entscheidungen, die heutzutage von Menschen getroffen werden, in Zukunft von Menschen mit KI gemeinsam getroffen werden. Für diese Art der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Entscheidungsfindung brauchen die Menschen ganz neue Skills: Es muss Verständnis darüber bestehen, wie KI im Allgemeinen funktioniert, welche Risiken und Probleme eine KI haben kann und wie man diese erkennen und mit solchen Fehlern umgehen kann. Ich denke, dass sich die Anforderungen an die Fähigkeiten in den Professionen verändern, ist ganz natürlich – der Radiologe von heute lernt ganz andere Tools kennen als der Radiologe von vor 20 Jahren. Das ist eine Veränderung, wie sie auch in Forschung und Lehre passieren muss.

HRCB: Gibt es bereits Daten dazu, wie medizinisches Personal solche KI-basierten Anwendungen in der Praxis annimmt?

Antweiler: Dazu gibt es bereits Rückmeldungen von Personal und auch in der Literatur viele Untersuchungen, v.a. im Bereich Digitalisierung, manches auch schon für KI. Der Konsens ist, dass das Interesse an Technologie und die Bereitschaft, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, im Medizinwesen auch im Personal sehr hoch ist. Wichtig zu beachten ist, dass die Mitarbeitenden frühzeitig eingebunden werden wollen in die Entwicklung dieser Produkte – viele der Softwareprodukte, die im Gesundheitswesen eingesetzt werden sollen, sind nicht an die realen Prozesse vor Ort angepasst und das führt zu Mehrarbeit und damit zu Enttäuschungen. Bei solchen Produkten müssen die Leute geschult, die Finanzierung, die Abhängigkeiten, die Verantwortlichkeiten, die Haftung und der Datenschutz geklärt werden. Nur dann kann eine Anwendung nützlich eingesetzt werden.

HRCB: Herzlichen Dank für das Interview.

Antweiler: Sehr gerne.

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Das Interview wurde geführt am 08.08.2024 via MS Teams.
Verschriftlicht von Nathalie Waidele (Gesundheitsregion KölnBonn e.V.)

Beitragsbild: Tara Winstead (https://www.pexels.com/de-de/foto/hand-finger-zukunft-roboter-8386440)