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Zufriedene Gesichter bei der Vorstellung erster Ergebnisse: Kreisdirektor Klaus Grootens (v.li.), Projektleiterin Dr. Jessica Möltgen, Daniel Vankerkom (AOK Rheinland/Hamburg), Dr. Alexia Zurkuhlen (Gesundheitsregion Köln/Bonn), die koordinierende Ärztin Dr. Nesrin Wilke, Fallmanagerin Gabriele Grümer und Gesundheitsdezernent Ralf Schmallenbach. (Foto: OBK, Katharina Hein)

Pressemitteilung: OBERBERG_FAIRsorgt feiert erfolgreiches Projekt und stellt vorläufige Evaluationsergebnisse vor.

Oberbergischer Kreis: Die offizielle Förderphase von OBERBERG_FAIRsorgt endet zum 31. März 2024. Dies war Anlass am 1. März 2024 auf Schloss Homburg auf die erfolgreiche Umsetzung des mehrfach ausgezeichneten Projektes zurückzublicken, die ersten vorläufigen Evaluationsergebnisse vorzustellen und einen vorsichtigen Blick in die Zukunft zu wagen – eine Zukunft die bereits unter einem guten Stern steht, da der Oberbergische Kreis bereits bis Ende 2024 die Infrastruktur und damit die Patientenversorgung gesichert hat.

Die für die Evaluation verantwortliche Universität zu Köln stellt vor, dass sich die im Projekt rekrutierten Versicherten der AOK Rheinland/Hamburg deutlich von der Grundgesamtheit der Versicherten im Kreis unterscheiden, die die angebotenen Leistungen prinzipiell hätten in Anspruch nehmen können. Sie sind älter (im Mittel 79,4 Jahre), pflegebedürftiger (45,6% haben einen SGB XI Pflegegrad), multimorbider und auch kostenintensiver. 88,6% von ihnen leben in Kommunen, die schon heute einen hausärztlichen Versorgungsgrad unter 100% aufweisen.

Mit 40 Versorgten, 20 Angehörigen, 21 Leistungserbringern und den Fallmanagerinnen wurden über den Versorgungszeitraum Interviews geführt. Es zeigt sich:

Die Fallmanagerinnen arbeiten nach dem Prinzip der »empowernden« Hilfe zur Selbsthilfe. Mittels niederschwelliger, gesundheitsfördernder Beratung wird ein Unterstützungsnetzwerk um die Versorgten aufgebaut. Es geht darum, die gesundheitlichen und sozialen Ressourcen der Versorgten zu erkennen, zu aktivieren und zu stärken, also Eigenanstrengungen zu unterstützen, ohne die Versorgten aus ihrer Eigenverantwortung zu entlassen. In der Praxis zeigen sich manche Versorgungssituation und mancher Versorgungspfad als nicht patientenzentriert. Die Gründe dafür sind vielfältig, beispielsweise ein Nicht-Erkennen von Versorgungsdefiziten, Nicht-Wissen über Versorgungsangebote und Versorgungsalternativen, physische und psychische Einschränkungen zur Umsetzung, selbst tätig zu werden oder sich unterstützende Hilfe zu organisieren, aber auch mangelnde Selbstsorge und Selbstfürsorge etc. Die Versorgten werden – auch unter Einbezug von Angehörigen und eigenem Netzwerk – von den Fallmanagerinnen motiviert, selbst tätig zu werden. Bei Bedarf werden Unterstützungs- und Teilhabeangebote vermittelt und krisenhafte Versorgungssituationen begleitet, solange bis die häusliche Versorgungssituation sich stabilisiert.

Die eingeleiteten Interventionen der Fallmanagerinnen heben Versorgungspfade auf ein patientenzentriertes Gesundheitsversorgungsniveau. Die Fallmanagerinnen werden zum Kümmerer, Berater, Lotsen und Krisenintervenierer, z. B. bei Überleitungen aus dem Krankenhaus, dementiellen Erkrankungen und dem Wegfall von Unterstützungsressourcen. Ein besonderer Wert wird auf ein passgenaues Schnittstellenmanagement der unterschiedlichen Stakeholder (Hausarztpraxen, Facharztpraxen, Begleittherapien, Krankenhaus, Rehabilitations-, Kurz- und Langzeitpflegeeinrichtungen etc.) gelegt. Von großer Bedeutung sind die Entlastung von betreuenden Angehörigen und das Ersetzen von Angehörigen bei alleinlebenden und isolierten Versorgten. Einsamkeit ist ein von den Versorgten aktiv angesprochenes Problem.

Anhand von zwei schriftlichen Befragungen im Abstand von 12 Monaten (N=194) hat die Universität zu Köln die Veränderung gesundheitsbezogener Outcomes (u.a. körperliche Funktion, Erschöpfung, Schlafbeeinträchtigung, Schmerzen, Lebensqualität, Teilhabe) untersucht. Mit Ausnahme der Erschöpfung bei Alltagsaktivitäten, die geringfügig zugenommen hat, zeigte sich ansonsten eine Stabilisierung der gesundheitlichen Situation der Teilnehmenden.

Zudem wurden anhand von Routinedaten, die die AOK Rheinland/ Hamburg zur Verfügung stellte, Effekte auf Kosten (Gesamtkosten für Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung, Krankenhaus- und Hilfsmittelkosten, Kosten für Tages- und Kurzzeitpflege und für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen der Pflegeversicherung) sowie auf den Verbleib in der Häuslichkeit, die Entwicklung der Pflegebedürftigkeit und der Multimorbidität und notfallbedingte Krankenhausaufnahmen untersucht. Hierzu wurden für die N=271 Fälle, die mindestens neun Monate versorgt wurden, Vergleichsgruppen ähnlich gelagerter Fälle aus dem Oberbergischen Kreis und dem Rhein-Sieg-Kreis herangezogen. Hier zeigten sich jeweils keine Unterschiede zu den Vergleichsgruppen, was angesichts des kurzen Interventions- und Beobachtungszeitraums und zum Teil auch aufgrund der vergleichsweise geringen Fallzahl zu erwarten war. Für belastbare Ergebnisse zu solchen Effekten bräuchte es insbesondere Daten aus einer länger andauernden Versorgung.

Anknüpfend an die Befunde der Evaluation können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:

Der von vielen Dimensionen (wie u.a. dem Altern, der Diversität, der Urbanisierung) und Aspekten (wie z. B. der sozialen Ungleichheit, der Ausgrenzung und der Diskriminierung) bedingte soziale Wandel bringt komplexe Bedarfslagen hervor, auf die hin wir eine passungsoptimale Infrastruktur entwickeln müssen, deren Sicherstellung gewährleistet sein muss. Das sind Vorgaben des Sozialrechts im Lichte von Verfassungsvorgaben.

Das medizinische System, auch in seiner Verwobenheit mit anderen Sektoren der Care-Praxis (Langzeitpflege, Formen der Behinderung etc.) ist angesichts des Wandels nicht optimal aufgestellt in seinen Strukturen und Prozessen. Die Leistungsbilanz ist problematisch: Gleichzeitigkeit von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Sektoralismen und Fragmentierungen prägen das Geschehen. Die qualitativen Studienanteile des Projekts spiegeln dies in den Erzählungen des Erfahrungserlebnisgeschehens von Menschen im hohen Alter in Lebenslagen der Verletzbarkeit.

OBERBERG_FAIRsorgt als Lösung

Was können wir also tun? OBERBERG_FAIRsorgt ist ein Beispiel dafür, in welche Richtung die Idee alternativer Versorgungslandschaften gehen muss. Sozialraumbezogen, also netzwerkbildend auf die Mikrowelt des Wohnens und des nachbarschaftlichen Wohnumfelds fokussierend, benötigen wir integrierte Formen der Behandlung, der Versorgung, der Betreuung, der Begleitung. Care- und Casemanagement gehören zusammen. Die Team-orientierten Netzwerke müssen multi-professionell aufgestellt sein. Es bedarf einer achtsamen Arbeitskultur der »Personzentriertheit« gegenüber dem Menschen in seinen Bedarfslagen, es bedarf einer Offenheit für die notwendige Kooperationskultur, die mit Empathie die Grenzen der Disziplinen überschreitet und eigene professionelle Selbstbilder verändert. Bezugspunkt kann nicht der Mensch in Reduktion auf klinische Parameter der Medizin sein, sondern der ganze Mensch (Geist, Seele und Körper) in seiner konkreten Lebenslage des Alltags seiner unmittelbaren Lebenswelt, in der er gestellt ist.

Das Projekt im Oberbergischen Kreis zeigt, wie Beiträge zur Stabilisierung gefährdeter Alltagswelten gelingen können. Menschen lernen in neu gestrickten Kontexten der Versorgung, besser ihre Verluste, Belastungen, Herausforderungen, Entwicklungsaufgaben im höheren Alter zu bewältigen. So werden die Fähigkeiten in der Daseinsführung im Alltag gestärkt. Dies reduziert Ohnmachtsgefühle, und erhöht die Lebensqualität. Gesundheitspolitik sollte keine Krankenversorgungsindustrie, sondern ein integrierter Teil der Gestaltung von Lebenschancen, Lebenslagen und der Lebensweisen sein.

Somit erkennt man die gemeinsame Verantwortung der Sozialversicherungsträger und der Kommune für die Arbeit an diesem Ziel, aber auch die soziale Verantwortung der Leistungsanbieter in ihrer Trägervielfalt.

Wir benötigen lokale sorgende Gemeinschaften in einer neuen Kultur regionaler Infrastruktur. An diesem Ziel arbeitet der Oberbergische Kreis weiter, um die Arbeit des Projektes auszubauen und in eine Gesundheitsregion zu überführen.

Verantwortliche Evaluation an der Universität zu Köln:
Univ.-Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Dr. Ursula Köstler, Christian Grebe, MScN
Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (ISS), Universität zu Köln

OBERBERG_FAIRsorgt wird mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Förderkennzeichen 01NVF18009 gefördert.